Schrift & Malerei: vom Bild zur Schrift
Der Gebrauch bildhafter Zeichen tauchte in Paris im 14. Jahrhundert auf. Sie bezeichneten sowohl Straßen als auch einzelne Häuser. Oft waren sie plastisch [Fig. 1] und zeigten das Bild eines Heiligen. Wenn sie gemalt waren, wurden sie auf hölzernen Brettern ausgeführt und seitlich an den Türen angebracht. Später wechselten diese Zeichen vom Haus auf das Geschäft, das sich in ihm befand. Da den Häusern hölzerne Vorbauten vorgesetzt waren, waren diese Zeichen aber schwer zu erkennen. Um sie sichtbar zu machen, begannen die Händler, ihre Zeichen an langen Stangen in die Straße hinein zu hängen. Das Aushängeschild war erfunden.
Im 18. Jahrhundert fand das Schildwesen Eingang in die Welt des Drucks: Kupferstecher verfertigten sogenannte »enseignes-adresses« [Fig. 2], die eine frühe Form gedruckter Werbung darstellen. Diese Handreichungen zeigten gewöhnlich das (bildhafte) Schild der jeweiligen Einrichtung und gaben Auskunft darüber, wo sie zu finden sei. Da die meisten Holzschilder im Laufe der Jahrhunderte verloren gingen, sind diese Drucke heute eine wichtige Quelle für die Erforschung der Geschichte des Schildes.
Die Aushängeschilder wurden im Lauf der Zeit immer größer: » Die Schilder hingen an langen Eisenstangen ; in der Art, dass Schilder und Stangen bei starkem Wind drohten, die Passanten in den Straßen zu erschlagen. Wenn der Wind blies, stießen und prallten all diese knarrenden Schilder aneinander, was ein klagendes und misstönendes Glockenspiel ergab. Außerdem warfen sie des Nachts lange Schatten und verdeckten noch das schwache Licht der Laternen. Die meisten von ihnen waren plastisch und von einem kolossalen Volumen. Sie sahen aus wie ein gigantisches Volk, das verkrüppeltste Volk Europas. Man sah einen sechs Fuß hohen Degengriff, einen Stiefel groß wie ein Scheffel, einen Sporn so groß wie ein Wagenrad, einen Handschuh, in dem man in jedem Finger ein Kind von drei Jahren hätte unterbringen können, monströse Köpfe, mit Floretten bewaffnete Arme, die die Straße auf ganzer Länge bevölkerten.« 1
Diese Worte mögen heute überzogen klingen, doch Unfälle mit herabstürzenden Schildern kamen damals tatsächlich vor: in London wurden 1718 vier Menschen bei solch einem Unfall getötet. In der Folge wurden Aushängeschilder 1761 in Paris per Polizeidekret verboten. Danach mussten alle Schilder flach an die Hauswand angebracht werden, so wie in Abbildung 3 zu sehen.
Die Ausbreitung der Schrift im öffentlichen Raum
Die erste systematische Einführung von Schriftzeichen in den Pariser Stadtraum fand 1728 statt. Die örtliche Polizei schrieb alle Straßennamen (die sich bis dahin gelegentlich ändern konnten) fest und vergab Hausnummern, die zuerst auf der einen Seite der Straße hinauf liefen und dann – weiter steigend – auf der anderen Seite wieder hinunter. »Diese Namen waren in großen schwarzen Buchstaben auf gleichgroß zugeschnittene Weißblechbögen gemalt und wurden an den Straßenecken am ersten und am letzten Haus jeder Straße und Gasse angenagelt. Auch die Nummern wurden gemalt, über die Haustüren, in weißer Farbe auf blauem oder rotem Grund.« 2
Die Bewohner der Stadt lehnten diese Maßnahme zunächst ab, zumal wenn ihnen der Name, der ihrer Straße offiziell zugeschrieben wurde, nicht gefiel. Doch schon um 1750 waren Straßenschilder im Allgemeinen angenommen und die Bürger begannen von sich aus, an den Kreuzungen zwischen den Straßenenden Tafeln anzubringen.
Der nächste Schritt der Verbreitung von Schrift im öffentlichen Raum vollzog sich parallel zum Aufschwung der industriellen Produktion und der wachsenden Mobilität. Zwischen 1800 und 1850 verdoppelte sich die Bevölkerung von Paris auf eine Million. Es gab mehr Handel, mehr Läden und mehr Schilder. Neue Werbeformen wurden gebraucht. Die Schilder begannen, auf die Ecke belebter Straßen zu wandern, um dem (u. U. ortsfremden) Passanten den Weg tiefer in das Viertel zu weisen. Dies war der Ursprung des gemalten Wandschilds, das sich schnell auch auf Brandmauern ausbreitete. Eine bemerkenswerte Erscheinung dieser Zeit ist das Händchen, das jenen den Weg wieß, die lediglich das bildhafte Element eines Schilds lesen konnten.
Vom gemalten Schild zum Wandplakat
Die Entwicklung vom Ladenschild an der Fassade zu gemalten Wandplakaten auf allen Brandmauern der Stadt kann in drei größere Schritte untergliedert werden, die die ökonomische und soziale Entwicklung im 19. Jahrhundert widerspiegeln.
Zunächst begannen Händler kleiner Läden, Werbung für sich an den Ecken größerer Straßen zu machen. Diese Wandmalereien sollten den Weg anzeigen und beinhalteten ähnliche Informationen wie die enseignes-adresses. Zeitgleich begünstigten Industrialisierung, öffentlicher Transport und der wachsende Wohlstand des Bürgertums die Entstehung größerer Handelshäuser, den sogenannten »magasins de nouveautés«, die auf Textilien und Toiletterie-Artikel spezialisiert und die Vorläufer der Warenhäuser des späteren 19. Jahrhunderts waren. Ihre Zahl schnellte von 16 Häusern 1810 auf 400 Häuser 1855. Sie waren über die ganze Stadt verteilt und buhlten um die gleiche Kundschaft.
Das führte, im zweiten Schritt, zu gemalten Werbeplakaten, die in allen Teilen der Stadt für die Einrichtungen warben, was deren Inhalt veränderte: das Anzeigen einer Richtung trat in den Hintergrund. Was nun vor allem zählte, war den Namen des Hauses im Sinn einer Marke zu verbreiten. Dem gemäß entwicklte sich die Schriftmalerei in den 1840er Jahren zu einem »big business«. Agenturen begannen, interessante »Stellen« zu verkaufen, die sie von Hauseigentümern mieteten, sowie die Ausführung der Malerei.
Im Jahr 1884 kommentierte Édouard Fournier den Ehrgeiz, mit dem die Warenhäuser an ihren althergebrachten Namen festhielten, die nicht selten an frühere bildhafte Zeichen anknüpften: »Auch wenn man auf das Schild verzichtet hat, so hat man doch den Titel wie eine Art Geschäftsgrund beibehalten und dieser Titel blieb als Inschrift über der Boutique, wie auch auf den Rechnungsbögen und den Prospekten der Händler. Dieses Namens-Schild ist ein ernsthaftes Eigentum, das der Händler gegen Nachahmer zu verteidigen das Recht hat. Auch die meisten Handelshäuser, die derzeit in Mode sind, unterscheiden sich durch ihre Namens-Schilder, die in großen Lettern auf den Straßenfronten ihrer Geschäfte geschrieben stehen. […] Einige dieser Schilder sind Lehen geworden, die ihre Besitzer nicht gegen ein Erbherzogtum eintauschen würden, wenn es sie denn noch gäbe. In diesem Schaubild gebührt den Neuheiten der Lorbeerkranz: der Louvre, der Bon Marché, das Printemps etc. füllen die Welt mit ihrem Namen – will heißen, mit ihren Schildern – und Sie können sicher sein, dass der große historische Name des Louvre für eine Frau heute nicht mehr die Vorstellung des Königspalastes oder des wunderbaren Museums weckt, sondern die des ›größten Geschäfts der Welt‹!« 3
Im dritten Schritt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ging es der frisch konstituierten Industrie darum, ihre nationalen Marken im gesamten Land zu etablieren. Da die Anzahl der »Stellen« natürlich limitiert war, führte dies zu einer Konkurrenz zwischen Produzenten und Handel um die bestmögliche Platzierung ihrer Anzeigen.
Zusammenfassung
Vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bewegte sich die kommerzielle Werbung von bildhaften Zeichen hin zu Schriftzeichen. Natürlich haben beide im öffentlichen Raum stets koexistiert und die Präferenz pendelte im Lauf der Jahrhunderte mal mehr zur einen, mal mehr zur anderen Seite. Dennoch kann man festhalten, dass Schrift seit ihrer ersten systematischen Einführung in den Straßen konstant mehr Raum in der Stadt erobern konnte. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren die Straßen mit Schriftzeichen buchstäblich überzogen. Was ursprünglich einzigartig und hervorragend war – etwa auf einem Monument – war allgegenwärtig geworden.
1] Louis-Sébastien Mercier im ersten Band des »Tableau de Paris« von 1782, zitiert nach Bruno Ulmer, Thomas Plaichinger: Les murs réclames – 150 ans de murs peints publicitaires. Paris: Éditions Alternatives, 1986, p. 15. 2] Édouard Fournier: Histoire des Enseignes de Paris. Paris: E. Dentu Éditeur, 1884. p. 67. 3] ebd., p. 438–439.
Bei obigem Text handelt es sich um einen kurzen Auszug aus meiner Diplomarbeit »French Délice – Schriftmalerei & Lettering & Schriftkultur in Frankreich«. Find the English version of this text here, und Bilder des Buches dort. Vorträge zum Thema gibt es auch.