Anfang Februar 2019 bewegte eine Veränderung in der Berliner Werbelandschaft meine Timelines auf Facebook und Twitter. Dabei ging es darum, dass in Berlin massenhaft Litfaßsäulen abgebaut und im gleichen Zuge neue aufgebaut werden. Erstaunlicher Weise ist dabei der Tenor meiner sozialen Filterblase negativ, so wie auch bei vielen Zeitungsartikeln zum Thema.
In der bekanntermaßen kapitalismus- und werbefreundlichen TAZ verstieg sich Uwe Rada in eine — im Detail unsauber informierende — »Säulendämmerung«, dernach der Berliner Senat (und in diesem vor allem die Verkehrssenatorin von Grünen Gnaden) die »Entsorgung Berliner Geschichte« in »Rekordgeschwindigkeit« vollzöge.1 Noch weiter ging Maritta Adam-Tkalec, die in der Berliner Zeitung beklagte, der »auf Stadtzerstörung versessene Teil des Berliner Senats« plante die »Tilgung« von 2500 »ihrem historischen Vorbild folgenden« Exemplaren dieses »Kulturguts«. Nichts davon ist richtig.2
Im Anfang war Urin
Im deutschsprachigen Raum wird der Berliner Ernst Litfaß (1816–1874) gemeinhin als der Erfinder der nach ihm benannten Säule zur Anbringung gedruckter Werbung gesehen. Bereits dieser Sachverhalt ist allerdings etwas komplizierter als das große, einfache Wort »Erfindung«. Litfaß kam durchaus nicht ex nihilo auf die Idee, vielmehr fand er Inspiration in London und Paris. In Paris, das er belegter Weise 1853/1854 besuchte,3 waren bereits seit 1839 »Colonnes moresques« in Gebrauch, bei denen es sich um Pissoirs handelte, die ebenfalls zur Anbringung von Werbung genutzt wurden. Während die Lithografie links in Abb. 2 Werbung zeigt, die so im Pissoir angebracht ist, dass sie vom Benutzer während des Akts gelesen werden konnte, zeigt rechts eine Fotografie von Charles Marville von ca. 1865 eine Säule, die Werbung sowohl innen als auch außen trägt.
Die Verbindung von Urin und Werbung sollte sowohl ein wichtiger Aspekt bei Litfaß’ Initiative in Berlin als auch bei der Reorganisation der Litfaßsäulen der Stadt im Jahr 2018 sein. Im Sommer 1854 wandte sich Litfaß mit seinem Konzept der »Annoncir-Säule« an den Polizeipräsidenten Karl Ludwig von Hinckeldey [Abb. 3]. Der wenige Monate später unterzeichnete Vertrag erteilte ihm eine Konzession zur Aufstellung derselbigen und deren exklusiver Vermarktung, zunächst auf 15 Jahre, letztlich bis 1880. Zusätzlich erhielt Litfaß die Erlaubnis, auch die 50 bestehenden Pissoirs und Brunnen der Stadt einzubeziehen. Zur anfänglich vereinbarten Neuerrichtung von 30 zusätzlichen Pissoirs kam es indes nicht. Die erste Säule wurde 1855 an der Ecke Münzstraße und (heute) Almstadtstraße aufgestellt, an der ein 2006 von der VVR Berek gestiftetes Denkmal darauf aufmerksam macht.
Die Einführung der Litfaßsäule sollte vor allem das wilde Plakatieren in einer Stadt in geordnete Bahnen lenken, deren Einwohnerzahl sich von 1825 bis 1855 auf etwa 450.000 verdoppelt hatte. Zusätzlich hatte die Reglementierung öffentlicher Plakatierung für die Behörden aber den Vorteil, dass nun ein privater Akteur, — der im Vormärz noch eine prodemokratische Position eingenommen hatte —, nun die politische Zensur der Aushänge geich mitübernahm, staatlichen Instanzen quasi vorgelagert.
Litfaß als Säulenheiliger
Durch sein Konzept kam Ernst Litfaß zu großem Reichtum, seine Druckerei und das Säulenkonzept brummten. Gleichzeitig tat er sich wohltätig und patriotisch für die Hinterbliebenen von Feuerwehrmännern, für Katastrophenopfer und für Kriegsinvalide hervor, was ihm den Spitznamen des »Säulenheiligen« eintrug.
Aufgrund seiner guten (wenn auch nicht engen) Beziehungen zum Königshaus4 konnte Litfaß in den Kriegen Preußens gegen den Deutschen Bund (1866) und des preußisch geführten Deutschlands gegen Frankreich (1870/71) stets als erster über Neuigkeiten und vor allem Siege an seinen Säulen berichten.
Die Litfaßsäule war kein rein werbliches Medium, ihr Hauptinteresse lag neben dem Kulturprogramm (Theater, Musik) vielmehr in den tagesaktuellen Meldungen, die dort ebenfalls zu finden waren. Diese heute weitgehend vergessene Nutzung schrieb sich im Großen und Ganzen bis in die 1960er Jahre fort. Erst in den 1970er Jahren verschwand diese Dimension der Litfaßsäulen, abgelöst vor allem durch Radio und Fernsehen.
Säulen des Anstoßes (Version Parisienne)
In Frankreich heißen Litfaßsäulen »Colonnes Morris«, nach dem Pariser Drucker, der dort ab 1868 die gleiche Form zur Blüte brachte und damit die älteren »Colonnes moresques« mit Pissoir ablöste. Im Unterschied zur Berliner Schwester, die kommerzielle Werbung, staatliche Propaganda und Kulturprogramm kombinierte, war die Pariser Version jedoch von Anfang an der Bewerbung kultureller Spektakel vorbehalten.5
2006 begann in Paris ihre Ersetzung durch die bereits 1994 von dem Architekten Jean-Michel Wilmotte für JCDecaux entwickelten »Colonnes Wilmotte« [Abb. 6], die neben einem neuen Design auch die Beleuchtung von Innen mitbrachten, eine Technik, die hierzulande unter dem Namen »City Light« bekannt ist. Dabei handelt es sich um gedruckte Werbung, deren Sichtbarkeit durch Hinterleuchtung in die Nacht ausgedehnt werden kann. Und ebenso wie der Stadtmöblierer und Außenwerber Wall Motor der City-Light-Technik in Berlin war, war sein französisches Pendant JCDecaux, das 1986 die Nachfolgefirma von Morris übernahm, ihr Motor in Frankreich.
Die Anzahl der Pariser Säulen sollte 2006 unter dem Bürgermeister Bertrand Delanoë von 773 stadtweit auf 550 sinken, um den öffentlichen Raum zu »entlasten«.6 Was folgte, war ein Aufschrei der Pariser Kulturszene,7 die sich in ihrer öffentlichen Kommunikation beschnitten fühlte. Berichte über die tatsächlichen Folgen der neuen Säulen waren im Netz nicht zu finden.
Säulen des Anstoßes (Berliner Version)
Die Neuordnung der Berliner Außenwerbung 2018 hat ihren Ursprung nicht an der Litfaßsäule, sondern bei den Toilettenhäuschen. Diese wurden überwiegend von der Berliner Stadtreinigung BSR betrieben und 1993 auf 25 Jahre an die Wall AG übertragen. Der Vertrag beinhaltete, dass Wall sowohl alte Anlagen durch neue ersetzt als auch den laufenden Betrieb gewährleistet.
Für die Stadt sollten keine Kosten anfallen, weswegen der Wall AG im Gegenzug eine weitreichende Konzession für Außenwerbung gewährt wurde: Für jede City-Toilette durfte Wall mehrere Werbeflächen auf öffentlichem Straßenland einrichten und vermarkten und zwar in den unterschiedlichsten Formen, vom City-Light-Poster bis zur Litfaßsäule [Abb. 8].8
Ziel des rot-rot-grünen Senats unter Michael Müller (seit 2016) wurde nun, die beiden Geschäftsfelder wieder zu entkoppeln, da keine Transparenz darüber bestand, welche Ausgaben für die Toiletten bei Wall welchen Einnahmen durch die Werbung entgegenstanden.9 Dabei berief sich der Senat sowohl auf eine Rüge des Landesrechnungshofes als auch auf eine Grundsatzentscheidung des Bundeskartellamts.10 Der auslaufende Vertrag mit Wall, seit 2015/16 GmbH und eine 100-prozentige Tochter der JCDecaux AG, wurde nicht verlängert. Toiletten und Außenwerbung wurden getrennt neu ausgeschrieben.
Die Wall GmbH erhielt im Juni 2018 den Zuschlag für den Betrieb der öffentlichen Toiletten, für die die Stadt in Zukunft zu zahlen haben wird.11 Die Außenwerbung wurde in Lose geteilt.12 Bereits Anfang 2018 gewann ebenfalls die Wall GmbH das Los 1 für hinterleuchtete und digital bespielte Groß- und Standardvitrinen sowie für City-Light-Säulen. Das Los 2 für herkömmlich gedruckte und geklebte Werbesäulen ging an die ILG-Außenwerbung GmbH aus Stuttgart. Weitere Lose gingen an Mediateam Stadtservice GmbH, Berlin (Masten) und Ströer SE & Co. KGaA, Köln (Uhren). Nach Berechnungen des Senats werden die Einnahmen aus diesen Werbekonzessionen die Kosten aus Betrieb und Ausbau der Toiletten-Infrastruktur in Zukunft deutlich übersteigen.13
In Berlin standen Anfang 2019 ungefähr 2500 Litfaßsäulen auf öffentlichem Straßenland (es gibt noch weitere auf anderen Flächen), die bis 2006 von der VVR Berek bewirtschaftet wurden, einer Tochter der Berliner Verkehrsbetriebe BVG. Die VVR Berek wurde bereits 2006 von der JCDecaux AG übernommen, spätestens seit der vollständigen Übernahme Walls 2015 hatte Decaux also eine marktbeherrschende Stellung in Berlin.
Vertragsgemäß ist die Wall GmbH mit Ende ihrer Konzession nun zu Rückbau und Entsorung der überwiegend aus der Nachkriegszeit stammenden und teilweise mit Asbest belasteten Werbesäulen verpflichtet. 50 Säulen werden Pressemeldungen zufolge vom Denkmalamt unter Schutz gestellt.14 Insgesamt ist mit einer Verringerung der Gesamtzahl an Säulen zu rechnen, da aktuell alle Standorte von der ILG auf ihre Wirtschaftlichkeit überprüft werden.
Die ILG plant zunächst 1500 Litfaßsäulen und darf nur dort ohne weitere Umstände neue aufstellen, wo zuvor eine von Wall abgerissen wurde. Wo ein Standort verändert oder ein neuer Standort etabliert werden soll, muss ein Neuantrag gestellt und bewilligt werden. Deswegen ist damit zu rechnen, dass sich die Gesamtzahl verfügbarer Werbeflächen in diesem und im kommenden Jahr vorübergehend verknappt. Die maximal wieder erreichbare Anzahl von Säulen wurde vom Senat auf stadtweit 2500 begrenzt. Insgesamt beinhaltet die Neuvergabe eine Reduzierung von Werbung, vor allem bei den City-Lights.
Viel Lärm um wenig
Grundsätzlich muss jede neue Werbefläche in Berlin im Einklang mit dem Werbekonzept der Stadt stehen, das 2014 erstmals veröffentlicht wurde.15 Das 113 Seiten starke Dokument definiert unter anderem, an welchen Stellen hinterleuchtete, rotierende oder animierte Werbung überhaupt zulässig ist. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass es durch die Neuvergabe zu einem sprunghaften Anstieg von beleuchteten konventionellen oder hinterleuchteten City-Light-Säulen kommen wird.
Was man abschließend allerdings feststellen kann ist, dass die neuen Säulen der ILG vom Design her wenig ansprechend gestaltet sind [Abb. 10]. Eine »Localization« der Form im Rückgriff auf ortsspezifische Merkmale wie dem bekrönenden Palmblätterkranz des Urtyps wäre machbar, identitätsstiftend und äußerst begrüßenswert.
— — — — —
Quellen:
1) Uwe Rada: »Säulendämmerung in der Stadt«, TAZ online, 10.02.2019 — 2) Maritta Adam-Tkalec: »Ernst Litfaß, der Berliner Säulenheilige, wird aus Berlin verstoßen«, Berliner Zeitung online, 28.01.2019 — 3) Artikel des Stadtmuseums Berlin: »Ernst Litfaß – Der Reklamekönig und sein Nachlass«, Februar 2016 — 4) Christoph Gunkel: »Der Mann mit den 50.000 Denkmälern«, Spiegel Online, 11.02.2016 — 5) Dorothée Duchemin: »Un objet à Paris: la Colonne Morris«, CitaZine, 02.07.2013 — 6) ebd. — 7) Nathaniel Herzberg; »Le sacrifice des colonnes Morris«, Le Monde online, 18.01.2006 — 8) Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen: »Werbeerlöse aus Verträgen mit der WALL AG«, Bericht, 02.11.2005 — 9) Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz: »Öffentliche Toiletten für Berlin«, Website der Senatsverwaltung, ohne Datum. — 10) : »Zweifel am neuen Berliner Toilettenkonzept«, Berliner Morgenpost online, 03.08.2017 — 11) Pressemitteilung der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz: »Auftrag für die Errichtung und den Betrieb der öffentlichen Toiletten für die nächsten 15 Jahre vergeben«, 26.06.2018 — 12) Pressemitteilung Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz: »Einnahmen des Landes aus der Werbung signifikant gesteigert«, 09.01.2018 — 13) ebd. — 14) Carolin Brühl: »Wall muss 2500 Litfaßsäulen abbauen und verschrotten«, Berliner Morgenpost online, 24.01.2019 — 15) Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt: »Stadtbild Berlin – Werbekonzept«, September 2014
Bildnachweise:
1) Fritz Grögel, Februar 2019 — 2) links: Lithografie von Frédéric Bouchot, Musée Carnavalet, Paris: Inv. G.5897 — 2) rechts: Fotografie von Charles Marville, State Library of Victoria, Melbourne: Inv. H2011.126/34 — 3) Lithografie »Berlin’s neue Anschlag-Säulen« — 4) Fotografie von Leopold Ahrendts, Stadtmuseum, Berlin: IV 65/1235 V — 5) Fritz Grögel, August 2018 — 6) Colonne Wilmotte — 7) Fritz Grögel, Februar 2019 — 8) Fritz Grögel, Februar 2019 — 9) Filmstill von der Website von RBB 24, 27.01.2019 — 10) Litfaßsäule der ILG-Außenwerbung Stuttgart in einer Fotomontage derselben Firma